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Familienforschung
Heinz Howaldt [hh4]


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Das gesamte 98-seitige Dokument von Dr.Heinz Howaldt ist hier in 7 Abschnitte geteilt und enthält eindrucksvolle Beschreibungen über das Wirken und die Lebensweise unserer Vorfahren Bammel, Diederichsen und Howaldt.

 

Johanne Grave, geb.Bammel, 1907
Johanne Grave, geb.Bammel, 1907
Foto [12]


 


Familienforschung Heinz Howaldt

 

Erinnerungen von Johanne Grave, geb. Bammel,
geboren Braunschweig 24.10.1844,
gest. 8.Febr. 1930 Barsinghausen/Hannover

Johanne Grave an Heinz Howaldt


Hannover, im Januar 1920
Ifflandstraße 10.II.            


Mein lieber Neffe Heinz Howaldt besuchte mich Fünfundsiebzigjährige und regte mich an, einige meiner Jugenderinnerungen niederzuschreiben, im Anschluss an solche von seiner Mutter, meiner lieben Schwester Alwine, die mich sehr erfreuten, ja auch zum Teil die meinen sind und dabei von ihr so lebenswahr wiedergegeben sind, dass ich sie nur voll und ganz bestätigen kann. Gern will ich nun einiges hinzufügen, was mir von den elf Jahren, die ich älter bin als sie, in Erinnerung blieb.
Ich bin im Jahre 1844 am 24. Oktober in Braunschweig, Lange Dammstraße 1 geboren, im siebten Jahr der Ehe meiner Eltern als ihre zweite Tochter. Meine älteste Schwester Mathilde, die ich sehr lieb hatte und viel bewunderte, starb leider im Jahre 1881 als zweite Frau von Georg Howaldt in Kiel.
An meine Mutter "Mama Sophie", die starb, als ich 4 Jahre alt war, habe ich natürlich nur noch wenig Erinnerungen. Ich hatte einen Ausschlag im Gesicht, der fast den ganzen Mund bedeckt haben muss; denn ich erinnere mich deutlich, dass meine Mutter mich, im Schlafzimmer vor dem Ofen sitzend, auf dem Schoß hatte und mit vielen Zureden mir mühsam aufgeweichte Weißbrotstückchen in den Mund schob; weiter dann, dass sie mir Lebertran, der damals nur braun und übel riechend zu haben war, eingab, mich dabei auf den Deckel ihrer eschenen polierten Waschkommode setzte, ich aber die Annahme gründlich verweigerte und schließlich ihren bunt gestreiften Morgenrock ebenso gründlich verdarb. Trotzdem muss die Kur später wieder versucht sein, denn Schwester Helene, 3 Jahre jünger als ich, mochte ihn sehr gern und nahm mit der Leckerei hinterher, gern das für mich bestimmte mit, eine Geschmacksverirrung, die man ihr später nie zugetraut hätte; denn sie entwickelte sich zu einem Kochgenie neben großem Talent zu bester Schneiderin.
Meine zweite frühe Erinnerung betrifft meinen Großvater und Paten Konrad Beckmann aus Hannover, auf dessen Schoß ich im Vorderzimmer saß, mit den Berloques seiner dicken Uhrkette spielend. Ob er damals zur Beerdigung meiner Mutter in Braunschweig war? Dann erinnere ich, wie Tantchen, unser kleines Lenchen vor ihrem Bett hatte und auch nachts mit der Flasche fütterte. Sie wurde später von unserem Schwesterchen "Tantenmama" genannt.
Bei der Geburt dieser dritten Tochter soll meine Mutter in einem Gedicht versucht haben, unseren Vater darüber zu trösten, dass sein Wunsch nach einem Sohn und Stammhalter wieder nicht in Erfüllung gegangen war; sie hat darin Mathildens Klugheit und Ordnungsliebe und meine Wirtschaftlichkeit gerühmt, da ich so gerne mit kleinem Besen gefegt habe.
Meine nächsten Erinnerungen sind, dass auf unserer Straße, wohl 1848, während meine Mutter starb, Patrouillen gingen. Wir wohnten im Stadtteil "Alte Wiek". Darin lag auch das "Klint", "Morgenland" genannt, übel berufen und gemieden wegen seiner schimpfenden, unruhigen Bevölkerung, die z.B. bei jedem Feuerlärm, auch nachts, der dann allerdings neben dem Stürmen der Kirchenglocken durch Tuten und Knarren der Nachtwächter besonders aufregend war, mit Kind und Kegel ausrückte vor unserem Hause vorbei.
Auf dem Klint wohnte auch Fridolin, den man nur mit feuerrotem Halstuch sah, Straßenfeger, auch unserer Gasse, sehr beredt, besonders, wenn er nicht nüchtern war, mit gutem Mutterwitz. So hatte er den Pastor unserer St. Magni-Kirche Witting einst einen Traum erzählt, wie er gestorben wäre und versucht hätte, in den Himmel zu kommen, wie Petrus ihn aber abgewiesen hätte, wobei er erfahren hätte, dass dort für Pastor Witting, (der ein guter Seelsorger war) ein reservierter Platz gewesen sei. In der Hölle hätte er dann viele gute Freunde getroffen; ein reservierter Platz sei gewesen für Herrn Polizeiinspektor Cleve, der wohl wegen seines Amtes bei den unteren Volksschichten nicht beliebt war.
Fridolin begrüßte meinen Vater immer sehr respektsvoll, vielleicht, weil dieser schon früh freiwilliger Armenpfleger in dem Bezirk war - mit warmem Herzen! Eines seiner vielen Ehrenämter! Er war auch Offizier der Bürgerwehr und genoss viel Vertrauen, wurde fünfmal auf je 6 Jahre einstimmig wieder gewählt, als unbesoldeter Stadtrat, deren es in Braunschweig damals 3 gab, neben ebensoviel Juristen mit dem Oberbürgermeister. Als Stadtrat war er auch bei Feuer mit dem Kennzeichen am Arm einer der ersten, sich der Betroffenen anzunehmen und sie und ihre Wertsachen in Sicherheit zu bringen, auch vor diebischem Gesindel. Viel Absperrung gab es damals noch nicht; "Durch der Hände lange Kette geht der Eimer", sah ich als Kind oft, auch in unserer Nähe.
Auch "Schützenherr" war unser Vater, führte im Frack mit Dreimaster und Degen als solcher vor dem Zuge der fein grün Uniformierten, mit weißem Federbusch am Hut geschmückten Schützen bei Beginn des Festes - meist bei Hitze mit viel Staub - den vorjährigen Schützenkönig hinaus zur "Masch", bei Schluss 8 Tage später den neuen herein, nachdem er ihn als Vertreter der Stadt mit Rede beglückwünscht hatte. Dieser Zug ging dann wie alle vor unserem Garten vorbei und wenn unser Vater dann den Degen senkte und die befreundeten Herren mit grüßten, waren wir Kinder sehr stolz auf ihn.
Einen Schützenball machte "Mama Eliese" auch mit in hellblauem Kleide! Dieser Stolz beseelte mich auch, wenn unser Vater Ostern im Schulexamen mit anderen hohen Herrn am grünen Tische saß und nährte immer mehr meinen Ehrgeiz, wenn ich später Solo singen musste, in dritter Stimme oder deklarieren: "Des Sängers Fluch" usw.
In die Waisenschule kam ich schon vor vollendetem fünftem Jahre, um "Stillsitzen" zu lernen. Ich muss wohl ein unruhiges nervöses Kind gewesen sein, vielleicht infolge vieler Kinderkrankheiten, die ich nach Tantchens Erzählungen immer besonders arg, oft mit zwei Ärzten gehabt habe. Im Gedächtnis behielt ich nur die Grippe, im Zimmer der Großeltern liegend.
Ich erinnere lebhaft, wie ich gern die Regimentsmusik hörte, die Sonntag Mittag vor unserem Hause vorbei zum Schlossplatz marschierte vor den Truppen; sobald aber die große Pauke einsetzte, eiligst ins Hinterhaus floh, meinen Kopf ins Packheu auf dem Boden versteckend; auch wie ich auf der Masch im Magistratszimmer, von wo wir mit den Eltern Sacklaufen und Stangenklettern ansahen, bei nachfolgendem Feuerwerk, das mit Kanonenschlag begann, mörderisch schreiend durchs Gewühl entfernt werden musste, wohl nicht zur Freude meiner Eltern.
Später waren die Masch, wobei es leckere Eierkränze gab, von denen die Männer möglichst viele auf ihre Stöcke gereiht trugen, und zweimal im Jahre die "Kesse" mit Kumme, Salzkuchen zum Frühstück und damit der Tummelplatz, verbunden mit Schmalz und Ringkuchen und vielen Schaubuden. "Kreuzbergs Menagerie", Kolter-Weitzmann auf hohem Turmseil zum Dach der Aegidienkirche, Karussell und Kasperle-Theater unsere besten Kinderfreuden neben solchen mit Nachbarskindern auf der Straße und in unserem Garten!
Auf der Straße interessierten mich immer sehr die vielen großen Frachtwagen, die täglich vorbeikamen, die Fuhrleute in blauen Leinenkitteln, die schweren Pferde mit reichem blanken Messinggeschirr, unter dem Wagen im Kasten schaukelnd der große Hund, und abends der "Laternenmann", der die in Ketten von unserem bis zum Hause gegenüber hängenden Oellaternen ansteckte.
Meiner älteren Schwester nachfolgend kam ich Michaelis 1849 in die Waisenschule. Diese war eine sechsklassige vorzügliche höhere Bürgerschule in einem der großen Gebäude des Waisenhauses, das von städt. Mitteln und milden Stiftungen gegründet und erhalten wurde, untergebracht.
Die vier unteren Klassen mit je etwa 100 Mädchen wurden von Seminaristen unterrichtet, von denen die zwei Besten zugleich Waisenväter waren. Die Waisenmutter unterrichtete die Mädchen im Stricken, Nähen, Waschen, Reinemachen, Kochen und anderen Wirtschaftssachen.
Die Seminaristen unterrichteten zum Teil auch noch in den zwei oberen Klassen vorzüglich, besonders im Rechnen, Schreiben und Deutsch, sonst hatte ein Theologe die Leitung ebenso wie die des Waisenhauses selbst. Als letzte Vorstufe zu ihrer Anstellung, auf die manche oft sehr lange warten musste. So wurde Mathildes Lehrer Sattler Seminarinspektor mit großer Dienstwohnung in Braunschweig am Lessingplatz. Er hatte sich als Student verlobt und konnte, trotzdem sein Vater Kirchenrat war, erst 17 Jahre später heiraten! Mit seiner Familie waren wir sehr befreundet.
In der sechsten Klasse lernte ich lesen mit Buchstabieren nach großen Tabellen, die ganze Klasse gemeinsam; a, b, = ab, b, a, =ba usw. Geisttötend gegen die später so viel leichtere Diktiermethode, außerdem die ersten Buchstaben und Zahlen schreiben auf der Schiefertafel.
Von meinen Großeltern Bammel habe ich, da sie mit uns im Hause wohnten, aus frühestem Kindesalter die Erinnerungen, dass sie sehr liebevoll mit einander und mit uns Kindern waren, wir viel mit ihnen und Tantchen in ihrem Zimmer waren.
Der Großvater Christian brachte uns öfter Tüte mit vom berühmten Hofkonditor Wagener, neckte mich, sie hinten in seiner Rocktasche versteckend, sodass ich mit der Fußbank schrittweise hinter ihm hergehen musste, ehe ich sie erlangte.
Großmutter Sophie beschäftigte mich viel schon früh mit Wickeln des um 2 Stühle gelegten feinen weißen Baumwollgarnes, das sie fleißig zu Strümpfen verstrickte. Zur Belehrung durfte ich sie dann kämmen, sie saß dabei auf derselben grünen Fußbank, bis meist Blut kam. Die guten Alten nannten sich nur Christchen und Fietchen und aßen von einem Teller zusammen von der Geburt ihrer Zwillinge her.
Großen Eindruck machte auf mich ihre Erzählungen "aus der Franzosenzeit". Damals wohnten sie noch in kleiner Mietwohnung "Am Magnitor 2", wo die meisten Truppen vorbeikamen; viel war von den Kosaken die Rede, die Talglichter stahlen und aßen! 1805 hatte Großvater sich, 21 Jahre alt, verheiratet mit meiner 22jährigen Großmutter. 1806 war mein Vater geboren und zwei Jahre später ein Zwillingspärchen, von denen das eine kleine Mädchen starb, während die ebenso zarte "Tante Mathilde" im Alter von 86 Jahren starb.
Ohne Dienstmädchen hat Großmutter dann, während ihr Mann von früh 6 Uhr an in der Stobwasser'schen Fabrik als Kunstmaler arbeitete, viel Klage gehabt; wenn sie froh gewesen ist, die Kleinsten beide schlafen zu haben, ist unser Vater, ein lebhafter Knabe, fidel über ihr Geschrei gekommen mit den Worten: "Ich habe sie wieder wachgegurrt!" Das Verhältnis mit den Mitbewohnern und Nachbarn ist ein sehr gutes gewesen und als Freundschaft bis ins hohe Alter geblieben; mein Vater, sehr beliebt als drolliger Junge, ist gegen Angriffe Fremder von allen energisch in Schutz genommen, so z.B. als sein Ball ins Kirchenfenster geflogen und es zerbrochen haben sollte.
Mein Vater hatte gute Bürgerschule besucht, ist sehr fleißig und strebsam gewesen, hat daneben Unterricht im Schönschreiben, Französisch, Latein und Musik bekommen, war dabei bemüht, durch Lesen guter Bücher sich auch sonst zu bilden.
Großvater war ein stiller, sinniger Mann, Großmutter lebendig und anregend, wohl besonders dadurch geworden, dass sie, früh verwaist, lange bei der Familie eines Oberstleutnants du Roi als Stütze gewesen ist, sehr beliebt wegen ihres Fleißes, großer Sauberkeit und Tüchtigkeit; viele Zeichen dieser Anerkennung bewahrte sie dankbar auf.
Ihr war unser Vater wohl am ähnlichsten mit seiner Fröhlichkeit, Energie und vielen geselligen Vergnügen. Ich hörte als Kind viel erzählen von dem schwer zu erlangenden Kauf meines Elternhauses, wie Vater als Neunzehnjähriger sich noch besonders bemühen musste, um die letzten fehlenden 300 T. zur Anzahlung bei 2 verwitweten Damen Gaumann und Kunert geb. Block, die dieses, ihr Elternhaus, noch bewohnten. Dankbar für seinen Erfolg, ist Vater sehr befriedigt gewesen, als er später der Letzteren, die an Schwermut litt, noch das Leben hatte retten können. Durch Stöhnen aus der angelehnten Tür ihrer Bodenkammer veranlasst, diese zu öffnen, hatte er die arme Frau auf der Erde sitzend gefunden, die schon voll Blut war, da sie begann, sich die Pulsadern zu durchschneiden, sie zu verbinden und Hilfe zu holen, unserem Vater dann gelungen ist. Ich erfuhr dies erst später, nach ihrem Tode durch Tantchen. Mir war immer die andere Bodenkammer aufzuräumen interessanter, in der soviel Altes aufbewahrt wurde, z.B. hohe schwarze lederne Czakos und in einem Schrank die soliden, sorgsam geschonten Spielsachen unseres Vaters, meist Soldaten, massiv in Metall und bunt lackiert. An einem Balken von schwerem Eichenholz auf dem Boden vor dieser Kammer stand noch der Name des Erbauers "Block", wozu mein Vater meinte, da es so unpraktisch war, hätte er dran aufgehängt werden müssen. Weitere Erzählungen der Großeltern und Vaters betrafen dann das Revolutionsjahr 1830 mit dem großen Brand des herzoglichen Schlosses, dessen einer Seitenflügel nur durch die Oker von unserem Hinterhaus getrennt war, und da er z.B. die Kanzlei enthielt, unser mühsam erworbenes Eigentum sehr gefährdete, indem man eifrig packte für den Fall, dass der Brand überspringen würde, zum Fortschaffen der Möbel. Die feige Flucht des Herzogs Karl, des unwürdigen Sohnes aus ruhmreichem Welfengeschlecht, machte diese Sorge überflüssig. Wie unbeliebt der Herzog in allen Schichten der Bevölkerung war, durch sein ausschweifendes Leben, und despotischen Benehmen, das sich dadurch äußerte, dass er, wenn Damen auf der Straße vor ihm hergingen und ihn im Wege waren, er sie mit der Reitpeitsche an die Beine schlug und seine "Freundin" reitend mit an der Parade teilnahm, soll sich darin gezeigt haben, dass Adlige, durch Masken unkenntlich, sich unter den stürmenden Pöbel gemischt und durch Geld ihn zu weiteren veranlasst haben solle. Man nannte dabei besonders eine Familie v.V. und das Volk fand später doch göttliche Gerechtigkeit in den Tatsachen, dass alle Mitglieder der Familie eines gewaltsamen, oft freiwilligen Todes starben; so ertrank sich eine Braut im Hochzeitsstaat im Teich ihres väterlichen Parks.
Nachdem meine Mutter gestorben war, kam auch noch große Aufregung in mein Elternhaus wie in unsere ganze Vaterstadt durch den Ausbruch der Cholera, wohl im Jahre 1850. Da unser Stadtteil am niedrigsten gelegen war auf moorigem Grunde, waren wir wohl dadurch besonders gefährdet und heimgesucht. Die Seuche herrschte in unserer Gegend so furchtbar, dass ganze Familien, ja ganze Häuserblocks buchstäblich ausstarben. Auch viele Ärzte wurden von der Seuche hinweggerafft und deren gab es nur eine begrenzte Zahl älterer Herren; es bedurfte zu ihrer Ansiedlung einer Konzession, das war wohl hart für strebsame, fleißige Leute; Freizügigkeit kam erst viel später; auch unser Hausarzt war ein alter Medizinalrat, bärbeißig, von uns Kindern sehr gefürchtet, aber wenigstens tüchtig; wenn er sonntags in Vaters frisch gescheuerter Stube umherstapfte, schalt dieser nachher tüchtig.
Bei den vielen Gerüchten durch unsere auswärts schlafenden Dienstmädchen (die Mutter von einem sollte schon zur Beerdigung auf Stroh gelegen, am anderen Morgen lebend im Leichentuch erschienen sein, dadurch den Tod der Tochter verursacht haben) war meine Kinderfantasie sehr erregt. Während viele Familien von Braunschweig fort aufs Land, besonders nach Harzburg flüchteten, und die Seuche dorthin verschleppten, blieben wir im Haus, allerdings mit großer Vorsicht lebend, besonders als auch unser nächster Nachbar, Kaufmann Holland, Vater von 13 Kindern, den ich so gut kannte, wie er vor der Haustür stehend, blond gelockt, klein, den Zipfel seines rot seidenen Taschentuches nach der Mode der Zeit lang aus der Rocktasche hängend, meinen Vater als Nachbarn begrüßte mit fröhlichem Wort, dass beide noch lebten, am nächsten Morgen tot war.
Auch mein Vater bekam einen Anfall, vielleicht von dem Schrecken darüber, wurde auch tot gesagt. Da hatte der Inhaber eines Fuhrgeschäftes in unser Haus geschickt, anfragend, wie viel Trauerkutschen geschickt werden sollten!
Unter dem dunklen Schuppen dieses Fuhrgeschäftes fanden später unsere besten Versteckspiele statt; friedlich nebeneinander standen dort die offenen Totenwagen. Die Särge waren in Braunschweig sehr hoch, je höher, desto vornehmer und teurer das Begräbnis, neben der hohen geräumigen Hochzeits- und Taufkutsche belebt vom Hühnervolk; Eier haben wir dabei aber nie gefunden.
Wir lebten während der Cholera streng häuslich, nach dem Tode von Haus- und Küchenmädchen und einer dritten Bedienung ohne solche, die Schulen waren geschlossen, ebenso die Vorhänge unseres Vorderzimmers, da der Kirchenweg am Hause vorbeiging, oder vielmehr man fuhr im Trab zum Friedhof, die Träger mit brennenden Zigarren; das Wasser ließen wir aus höher gelegenen guten Brunnen weit her holen, es wurde nur wenig und abgekocht mit Rotwein getrunken, Mittagessen, nur Braten und Kartoffeln, bekamen wir aus dem Hotel de Prusse.
Jeden Morgen haben wir, Gott dankend, dass wir noch lebten, uns umarmt, Vater, Tantchen, und die Großeltern haben uns Kinder sorgsam betreut.
Ich war in der sechsten Klasse ein Jahr geblieben, in der fünften nur ein Halbes, voll Ehrgeiz und Neid, auch auf meine Schwester, ersehnend, in die vierte zu kommen, denn von da ab gings bis zur ersten die Treppe hinauf und man konnte, so klein man war, auf die kleinsten hinabsehen! In dieser Zeit hat Großmutter sich bereden lassen, zum ersten und einzigen Mal mit der Eisenbahn nach ihrer Vaterstadt Wolfenbüttel zu fahren mit Großvater und Tante und sich dort auch daguerrotypieren zu lassen, welches Bild dann Mathilde wie ich in goldenem Medaillons zur Konfirmation geschenkt bekamen. Leider wurden die Gesichtszüge damals nicht so dauerhaft festgehalten, wie durch die spätere Photographie". Meine erste Reise ging wohl als Kind nach Hannover. Von ihr erinnere ich noch das großelterliche Haus in der Cramerstraße, darin besonders links einen Laden mit Porzellan und englischem Crystall, der von "Tante Elise" geschäftsgewandt geführt wurde, dann im oberen Stock Großmutter Beckmann, die auf einem Throne saß, dann dass wir am Wasser (der Leine) entlang durch den "Heckengang" gingen (wohl nach Herrenhausen?). Mehr Erinnerung habe ich behalten an meine zweite und größere Reise, die ich mit Tantchen machte. Ich war damals 6 Jahre alt. Unser Vater hatte sich wieder verheiratet mit meiner Mutter Schwester, "Mama Elise". Während ihrer Hochzeitsreise zum Rhein, wovon sie viel schwärmte, besonders von Heidelberg, hatte Tantchen uns wohl zunächst bemuttert, war dann, um Mama das Einleben in die neuen Verhältnisse zu erleichtern, die gewiss nicht leicht waren für sie, im engen Haus mit Schwiegereltern, Schwägerin und drei Stiefkindern, der Einladung einer Jugendfreundin gefolgt und mit mir nach Neuhaus bei Paderborn gereist.
Die Freundin war an einen Gutsbesitzer verheiratet, sehr gutherzig, ohne Kinder. Es war dort ein schöner Garten, in dem wir saßen, auch ich an den ersten Kreuzstichen mit bunter Wolle nähend. Daneben war ein kleiner rascher Fluss mit Geländer, dann kam eine Wiese, dann geländerlose Brücke über die Lippe, dahinter Feld; da hat Tantchen viel Angst um mich gehabt, besonders einmal, als ein Knecht, nachdem sie mich früh, wie täglich, mit Franzbrantwein abgerieben hat, da ich "das Wachsen" hatte, mich heimlich auf meine Bitte mit ins Feld genommen hatte. Es lagen damals in H. Dragoner oder Husaren, die waren die Treppe hinaufgeritten zum alten Schloss, die wir hinaufgingen zum Gottesdienst in einen Saal; die Gegend war sonst meist katholisch, was mir in Paderborn auffiel.
Auch Wagenfahrten wurden gemacht, so besonders einmal mit fünfstündiger Fahrt nach Stadt Horn und den dabei liegenden Externsteinen; das machte auf mich mit den dort an Felsen eingemeißelten Bildern zur Erinnerung an die Hermannsschlacht im Teutoburger Walde großen Eindruck; aber dadurch hatte Tante viel Ärger, dass ich, nachdem wir den hohen Felsen erstiegen, an dem hoch oben eine kleine schmale Brücke zu einem ebenso hohen hinüberführte, mich schreiend weigerte, sie zu betreten; wie man mich dazu gezwungen hat? Jedenfalls habe ich dort die Aussicht von drei in den Felsen gehauenen Spalten gesehen, bin aber - gewiss mit Tante - froh gewesen, darnach am kleinen Mariensee zu spazieren. Für mich und meine Nerven ist der Aufenthalt von mehreren Wochen gewiss ebenso zuträglich gewesen wie für Tantchen und inzwischen hat unser reizendes Lenchen sich ganz ins Herz der neuen Mama gestreichelt und diese hat dann Verständnis gefunden für meine Eigenart, da ich sie sehr lieb gewann und je länger, je mehr behielt bis zu ihrem leider so frühen plötzlichen Tode!
Unser Vater war für uns Kinder die größte Respektsperson, beriet sich bei unserer Erziehung mit bewährten Schulmännern und gab uns mit Mama und Tante neben der Ermahnung das beste Beispiel zu Sparsamkeit, Genügsamkeit, Fleiß und Ordnungsliebe, hatte dabei Freude daran, uns gute Lehrer zu verschaffen, die ich mit den ausdauernden guten Organ zum Vorlesen (wie auch zum Singen) schon früh gern dem lieben Großvater vorlas, dann auch der Großmutter Beckmann, die in behaglichen Räumen eines Bäckerhauses uns gegenüber wohnte, auf ihrem Throne saß und fleißig strickte; auch zu weilen schnupfte. Sie hielt sich eine "Mamsell", die ihr auch vorlas, das Mittagessen vom Hotel holte und abends einfache Hausmannskost kochte, sonst für sie und auch unseren Haushalt nähte.
Großmutter Beckmann pflegte mittags in den Schlossgarten zu gehen, wo ich sie auch öfter sitzen sah, sehr beliebt im Kreise anderer alten Damen, von Hannover erzählend; dabei imponierte mir ihre schwarze Samtmantille und ihre feinen Hüte. Zu uns pflegte sie, während Mama täglich zu ihr hinüberging, oder wir Töchter (wurden von Papa "Sie" genannt), - besonders ich Leseratte sehr gern - sonntags zu kommen, während Großmutter Bammel von ihren Schwiegertöchtern "Du" genannt wurde.
Auf Rat des Arztes machte Großmama viel Turnbewegungen in ihrem Zimmer. Wie meine Schwester machte ich alle 6 Klassen der Waisenschule durch; in der ersten war ein dreijähriger Kursus, besonders in Weltgeschichte. Diese hatte unsere Älteste in sehr schöner Handschrift so gut nachgeschrieben, dass Vater die Hefte einbinden ließ; auch in mühsamen Handarbeiten leistete sie bei tüchtiger Lehrerin durch Geschicklichkeit und Accuratesse Vorzügliches, uns Jüngeren zum Vorbild. Sie kam dann noch ein Jahr in die "Pott'sche höhere Privatschule", in der neben den bisherigen Fächern der Waisenschule dem dort besonders gründlich geübten Deutsch, Religion, Geographie usw. noch Physik und Literatur, deutscher Aufsatz und 3 Stunden nachmittags Englisch, Französisch, Zeichnen und feine Handarbeiten hinzukamen.
Da ich ein Jahr früher zur Schule gekommen war, konnte ich diese Schule auch ein Jahr länger bis zur Konfirmation und darnach auf meinen Wunsch auch ein Jahr nachmittags besuchen, (Die Anführungsgründe hatte ich früh morgens bei den Hauptlehrern der Waisenschule privatim gehabt.) Während Mathilde dafür Privatstunden in Französisch und Zeichnen, letztere bei einem Jugendfreunde unseres Vaters, Kunstmaler Schröder bekam und dort Emma Howaldt, Nichte eines Freundes unseres Vaters, der viele hervorragende Denkmäler Braunschweigs in seiner Werkstatt in Kupfer trieb, so die Quadrilla auf dem herzoglichen Residenzschloss, das Lessingdenkmal usw., kennen lernte. Hierhin gingen wir mit Vater oft und gern, die Arbeit des Künstlers und Jugendfreundes vollenden zu sehen. Mein Vater hatte bis zu seiner Verheiratung im Hinterhause unseres Hauses eine hübsche Stube und Kammer mit Aussicht auf die Oker und dahinter den Bohlweg gehabt. Heitere und anregende Geselligkeit hatte sich dort zusammengefunden, so z.B. ein späterer Pastor Zuckschwerdt (der nach dem frühen Tode seines Vaters, der Superintendent gewesen und eine Witwe mit vielen Kindern hinterlassen hatte, die als "dritte Witwe" der Pfarrstelle erst ein Jahr vor ihrem Tode in Kriegszeit Pension bekam) im Waisenhaus zu Halle erzogen, dort auch hatte stricken lernen müssen, ein durch Geistesgaben wie Herzensgüte gleich vorzüglicher Mensch war, von altem Kaufmannsgeschlecht mit eigenem Wappen - in Magdeburg und Braunschweig ansässig - stammte, später in Haensen auf Wunsch der Gemeinde Pastor wurde und bis kurz vor seinem Ende (in Braunschweig) dort im Amte blieb. Uns allen waren seine Besuche, da er auch humorvoll war, größte Freude; so bat ich mir später aus, um ländlichen guten Haushalt kennen zu lernen, wie früher auch Mathilde auch in einem Pfarrhause war, nach Naensen zu dürfen, wo ich in herrlicher Gegend und gastfreiem Hause äußerst gern war und auch seine Frau und Tochter sehr lieb gewann. (Eine Kristallschale mit 3 Fabeltieren in Silber als Fuß und der Gravur: A.Z. ist vermutlich als Geschenk dieses Pastors Zuckschwertdt an Großvater Bammel jetzt in meinem Besitz. H.H.) Onkel Z. hatte dann im Bammel'schen Hinterhause die Verse gemacht zu den Bon-Bons, die dort mit Hilfe von Großmutter auf Platte gegossen mit alter Degenspitze zerschnitten und bei einem mit Freunden aus Salzgitter in diesem Ort improvisierten Ball den Damen spendiert wurden.
Gern machte Vater auch Fußwanderungen, so z.B. über den Wohlenberg nach Schloss Södern, wo damals eine berühmte Gemälde-Galerie war, ich glaube eines Grafen von Stolberg, die nach dessen Tode verkauft und leider in alle Winde verstreut wurde.
Diese Stube im Bammelschen Hinterhause mit einem alten Sofa der Großeltern, einem Schreibpult, das Vater sich aus Ersparnissen angeschafft hatte, kam dann in die Hände meiner Schwester Mathilde, die sich dasselbe mit Hilfe einer Kiste, umgekippt mit Decke belegt, zum Throne mit Nähtischchen mit in Aktion erworbenen Sesseln, Bildern usw. sehr nett einzurichten wusste und dort, besonders während ihrer Tanzstunde mit Kränzchenschwestern sehr vergnügt war. Sie war sehr gefeiert, auch auf Bällen, Hochzeiten usw. Später auf ihrer Reise nach Kiel zu Emma Howaldts Hochzeit mit Ingenieur Heesch; anstatt "14 Tage" blieb sie dort und in Hamburg 17 Wochen und viel musste dazu im Hause - wie alles für uns vielen weiblichen - geschneidert und nachgeschickt werden. Sie wurde von Mama selbstlos unterstützt in ihren Wünschen, unsere "Reisetante".
Vorher vor ihrer Konfirmation war im Vorderhaus unsere liebe Großmutter schwer erkrankt, sie war eine fromme Frau, hatte mich immer zur Kirche mitgenommen, die alt und groß, mit dicken Mauern, nicht heizbar (wie überhaupt damals keine Kirchen in Braunschweig außer der kleinen reformierten) und sehr kalt war; sie hatte in ihrem Kirchenstuhl ihren Platz mit Kissen belegt, die sie mir dann überließ, und in einem Schränkchen ein Gesangbuch, groß gedruckt für ihre geschwächten Augen.
Später, als sie nicht mehr zur Kirche gehen konnte, verfehlte sie nie, beim Läuten am Fenster zu stehen, wenn die Waisenkinder in langem Zuge zur Kirche gingen, voran die Knaben, über 60, in gelben boxledernen Kniehosen, blauen Strümpfen, schwarzen Lederschuhen und einem blauen Tuchrock, die Mädchen in ähnlicher Anzahl, mit dunklen Friesröcken, sauberen Kattunschürzen, über die kurzärmelige Taille ein rosa Kattuntuch schräg gesteckt, im Winter mit Extraärmeln; so gingen sie paarweise, der Waisenvater daneben, und Großmutter, die ja selbst früher Waise war, weinte Tränen der Rührung, während ich die Waisenkinder oft beneidete, denn sie hatten sehr hübsche Spiele und viele gute Bücher für sonntags, wenn sie keine Anverwandten hatten, und machten jeden Sommer Reisen nach dem Harz für 2 Tage!
Letzteres durfte ich erst nach der Konfirmation mit Tante, war so entzückt vom Burgberg, dass ich einen Brief nach Braunschweig schrieb wir würden dort bei Tantes Frauen die Nacht logieren und unterschrieb mit "Eure selige Johanne", was mir viel Meckerei eintrug.
Großmutter hatte Mathilde noch in ihrem schwarz-seidenen Konfirmationskleide vor ihr Bett kommen lassen und gesegnet und ist dann bald mit dem Gesangvers: "Jesus meine Zuversicht" gestorben. Darnach war mein lieber Großvater sehr einsam, besonders abends, während er am Tage sehr hübsch zeichnete und malte, meist Blumen nach der Natur, zuletzt mit zwei Brillen übereinander. Dann liebte er sehr, wenn ich ihm - so gerne! - vorlas oder unser Vater spielte, und sang mit so gutem Tenor, wofür er guten Unterricht gehabt hatte, auf eigenem tafelförmigen Instrument, auf dessen Resonanzboden er für uns Kinder Puppen tanzen ließ mit seidenen Kleidern, Borsten unter den Füßen. Papa hatte im Gesangverein oft Solo gesungen, so aus der "Glocke".
Sein großes Instrument stand unten im Vorderzimmer neben dem großen Mahagoni-Schreibsekretär. Beide nahmen die ganze Wand des Zimmers ein bis zum Ofen, Kommode, Nähtisch, Sofa mit dem Tisch und Stühlen füllten es ganz aus; anfangs hingen darin in einem Messingbauer auch noch 2 Kanarienvögel, ein Hochzeitsgeschenk!
Unsere Großmutter Bammel war ein halbes Jahr vor ihrer goldenen Hochzeit im Jahre 1855 gestorben; viele Pläne für die Feier waren gemacht, die Summe dafür bereitgehalten. An dem Tage gingen wir traurig zum Friedhof mit Blumen für die Großmutter; Vater ging auf dem Rückwege voran nach oben zum Großvater. Dort, als wir dessen Zimmer betreten, hörten wir dort Musik! Das für die goldene Hochzeitsfeier bestimmte Geld hatte der Großvater ausgegeben für ein gutes Piano! Da bekam Mathilde Klavierstunde, wie auch ich 4 Jahre später, nach der Konfirmation und Großvater hatte Freude daran, besonders, wenn Vater sang, so z.B. immer am Sylvester-Abend, wozu Großvater Punsch machte und Torte spendete, zum Geburtstag von Papa und "Mama Elise": Vaters war am 31. Dezember, Mamas am 1. Januar. Wir Kinder bedauerten das, da es so nicht für jeden die sonst übliche Torte gab; Mama sorgte dann aber meist für schöne "Braunschweiger Prillken".
Inzwischen hatte sich unser Haushalt vergrößert. Zwar war Mama Elises erstes Kindchen an "Scheuerchen" gestorben, sie selbst lange krank und zur Erholung den Sommer über in einer Gartenwohnung vor dem Tore gewesen; aber dann wurde unser Winchen geboren, ein wonniges kleines Ding, mit einem so schönen Körperchen, dass ein Professor Brandes, der aufgefundene Fresken im Dom restaurierte, sie sich als Vorlage wünschte bei Ausführung kleiner Engel, wo sie fehlten. Sie hatte so schöne blaue Augen wie Großmutter Beckmann und Mama Elise und wurde aller Verzug. - Sie wurde nicht, wie das kleine Mariechen, im obersten Stockwerk geboren, sondern wie die nachfolgende Nese unten im Schlafzimmer der Eltern nach dem Hof zu, da es, nicht künstlich verdunkelt, da es, trotz Fenster zum Hof hinausgehend, recht dunkel war. Zwischen diesem Hinterzimmer, zu dem 3 Stufen hinaufführten, und dem Vorderzimmer, da der Keller darunter lag, befand sich die sehr kleine Küche, im Sommer immer dunkel, da vor dem kleinen Fensterschlitz Bäume standen, die Öfen von Vorder- und Hinterzimmer wurde von der Küche aus geheizt, Feuerungsraum war unter eiserner Platte neben dem Herd; darunter sammelten sich in der warmen Ecke immer diese widerlichen großen schwarzen Käfer, die von Zeit zu Zeit ausgebrannt wurden; nur mit hochgesteckten Röckchen konnten wir Töchter abends immer in die Küche gehen!
Dicht neben einer kleinen Eimerbank, die genau Platz für 2 Eimer hatte, ging eine offene Treppe in den Keller, der zugleich unsere Speisekammer war; eine sehr schmale "Anrichte", die diesen Namen nicht verdiente, musste Tassenkorb und Wasserflasche unter anderem beherbergen. Aus letzterer goss man das kalte Wasser zu dem heißen vom Herde. So tat ich auch eines Tages. Da stieg mir ein so starker, gewürzter Geruch in die Nase und gleichzeitig rief Papa: "Mein Frühstück bitte!". Wo aber war die kleine Flasche dazu? Unser Mädchen hatte in der Wasserflasche Chidamer Genevre geholt und der war im Spülwasser mir in die Nase gezogen.
Wie wir in dieser kleinen Küche Gänsebraten am Spieß in Bratenmaschine gemacht haben, ist mir noch rätselhaft! Dagegen in guter Erinnerung, dass, wenn wir die Küche größer wünschten, Papa uns an die Fabel vom reichen Mann erinnerte, der seinem Gastfreund sein neues, großes Haus zeigt, und ihm, als er sich über die kleine Küche darin wundert, antwortet: "Ja, just die kleine Küche hat mein Haus so groß gemacht!".
In diesem Keller kam uns auch eines Tages das Wasser von der Oker; Kartoffeln, das Gurkenfass und alles schwamm darin; aber es kam nicht bis in die Küche, vielleicht, weil sie ihm zu klein schien? Und verzog sich bald wieder, während früher die Wassernot in unserer Straße so groß gewesen war, dass der Lohgerber mit Kahn darin fahren und den Leuten Brot bringen musste.
Noch einiges möchte ich von unserem engen, doch als Eigentum lieben Haus sagen. Es wurde in der Nachbarschaft der "Schmuckkasten" genannt, und mit Recht; es hatte bis in die Giebel hinauf weiße Gardinen und in Reuschen gezogene weiße Rouleux, war außen mit hellgrauer Oelfarbe angestrichen, die jedes Jahr beim Hausputz abgeseift wurde. Das Haus hatte vorn an der Straße 5 Fenster, von denen das mittlere Vorplatz war, nach dem Hof zu nur 3. Die Zimmer rechts war unsere Wohnung, der kleine Laden unten, dadrinnen alles blitzte, nicht heizbar, eine Kammer daran im ersten Stock noch fürs Geschäft.
Hinter dem Laden führte eine dunkle Treppe nach oben; die war verschalt und hineingebaut eine Besenbutze und ein enger Schrank für Porzellan. Dem folgte ein großer Kleiderschrank, ein kleinerer für Papa, ein Schrank fürs Geschäft und hinter der Hofleiter die solide Trittleiter die noch in meinem Besitz ist und noch mehr Generationen überdauern kann!
Wie auf dem schmalen Rest der Diele, nach dem Winchen noch das zierliche Häschen als Bammel'sche Tochter gefolgt war, unser Tantchen mit Vaters Freund, Apotheker Herzog, der gerade ins Haus kam, als endlich der Stammhalter, unser einziger Bruder Adolf geboren war, mit diesem Freund einen Freudentanz aufführen konnte, ist mir auch noch rätselhaft; doch habe ich's mit eigenen Augen gesehen und im Herzen mit gejubelt, da es Mama so gut ging. Ein "Ereignis" war vorher der Durchbruch in der Wand des unteren Hinterzimmers gewesen zur Anlage eines Fensters. Das machte dieses Zimmer hell und zum Esszimmer und gab Aussicht in den Garten und besonders im Winter auch auf die Hauptstraße. Dieser Garten war auch ein "Schmuckstück" und für uns alle äußerst wertvoll; aber er war unserem Vater von der Stadt nur geliehen, bis sich jemand fände, der auf dem Platz ohne Hofraum Häuser bauen möchte. Solange durfte Vater ihn behalten unter der Bedingung, ihn als Schmuckplatz sauber zu halten. Das geschah nun. Er war mit hellgrau gestrichenem Stakett umgeben. Er bildete eine Ecke und bestand zumeist aus Bäumen und Gebüsch, die die weiß getünchte Wand unseres Hauses verdeckten und bot uns Kindern im Gebüsch auch mit unseren Puppen Platz; unter einer Kastanie konnten wir alle Kaffee trinken und eine solide grüne Stuhlschaukel war in schulfreier Zeit stets besetzt, allerdings auch oft Streitobjekt. Der Garten hatte auch einen "Schlangenweg"; dessen Zweiggabelung benutzte ich gern als Sitz zum Lernen und Lesen. Um das Stakett herum ging ein Weg, wie alle, mit gelbem Kiese. Dahinter kam ein Rasenplatz, auf dem ein Rotdorn stand; wenn der im Frühjahr blühte, staunten alle über die Pracht, besonders auch vom Bahnhof kommende Fremde; auch Kugel- und rot blühende Akazien standen vor dem Gebüsch und an der Ecke saß das buckelige Apfelminchen, die so gern mal einen Teller Suppe nahm und uns von ihrem Obst verkaufte und sich von mir und meiner Freundin Marie Holland necken ließ, wenn wir sie von oben vom Aussichtsschornstein des hohen Hauses anriefen, auf dem wir auf schwebendem Brett so gern saßen.
Wo das Stakett des Gartens aufhörte, begann die Mauer zum Schlossplatz; ein gepflasterter Platz über der Oker führte noch zu einem sonnigen Plätzchen für Großvater; an der Mauer reiften einige Weintrauben und auf der Rabatte zogen sich Blumen hin, besonders schön Stiefmütterchen, Pflanzen holte er sich vom Hofgärtner; er malte und zeichnete sie dann noch zur Freude von den damit beschenkten.
Zu den Veränderungen im Hause, in denen anfangs die oberste Etage - Stube, Kammer und Küche - vermietet war, was ich gut erinnere, auch Bastians hatten da gewohnt, daher die treue Freundschaft bis heute - war es nötig geworden, dass das Hinterzimmer des obersten Stocks, das bis dahin das "Visitenzimmer" unserer Mutter gewesen war, mit schönen Mahagonimöbeln, besonders den als Meisterstück gearbeiteten hohen Sekretär, nun Schlaf-, Wochen- und Kinderstube wurde. Nun musste das Vorderzimmer und die Kammer des ersten Stockes von Großvater geräumt werden und derselbe höher hinaufziehen, was ihm recht schwer wurde, aber sonst blieb alles beim alten; denn Tantchen und wir "Großen" zogen ja mit hinauf. Sein früheres Zimmer wurde allerdings kleineres "Visitenzimmer", die Küche daneben Mädchenzimmer und Mathilde bekam im ersten Stock ein freundliches Zimmer mit 2 Fenstern nach hinten, ich daneben ein sehr schmales Kämmerchen, in dem gerade ein schmales Bett, ein kleiner Tisch und ein Stuhl Durchgang zum Fenster frei ließen. Bis dahin hatte ich immer erst mit Mathilde, dann mit Helene in einem Bett schlafen müssen, eine Bettschere wurde davor gesteckt und die jüngere kam an die Wand. Großvaters Zimmer war immer belebt; wir verstanden zu tanzen auf dem kleinen Fleck und umschmeichelten ihn, besonders ich wurde sein Liebling und liebte ihn sehr. Ich las ihm vor, spielte mit ihm Sechsundsechzig und so ging es gut bis 1859. Da wurde er im März bettlägerig; zu einem alten schweren Leiden verschlimmerte sich sein Husten, mit dem er sich schon jahrelang gequält hatte; Tantchen pflegte ihn aufopfernd Tag und Nacht; ich in meinem Kämmerchen nebenan hörte ihn soviel jammern und beten. Bei großer Magerkeit hatte er sich wund gelegen. Vier Wochen vor meiner Konfirmation, die am 1. Mai 1859 war, starb er, nachdem er mir noch das Medaillon mit dem Bilde der Großeltern gegeben hatte.
So erlebte er die Geburt des Stammhalters, der im Oktober geboren wurde, nicht mehr! Und meine Konfirmation war mir dadurch doppelt ernst und feierlich, da mein Vater als Kirchenvorsteher, wie es üblich war, und er auch bei Mathilde getan hatte, mich selbst vom kleinen Altar zum schönen Hochaltar führte.
Wir hatten von unserem Garten aus 1855 den Festzug zu Herzog Wilhelms 25jährigen Jubiläum gesehen; nun arbeitete Vater viel mit Künstlern an Besprechungen und Vorbereitungen für die Feier des tausendjährigen Bestehens unserer lieben Vaterstadt Braunschweig (1861).
Neben dem Stakett war ein vom Zimmermann gebautes Gerüst aufgeschlagen, die Tragfähigkeit desselben berechnet, die Plätze für Freunde und Familie bestimmt (das Stakett war für Fernstehende, Nachbarn usw. freigegeben). Vetter und Cousinen kamen aus Hannover zu Logierbesuch. Da erkrankte Großmutter Beckmann an Ruhr im 78. Lebensjahr. Mama war fast immer bei ihr, auch während des großartigen Festzuges; am nächsten Tag war auch Aufzug aller Schulkinder, dabei war unser Winchen; ich bat Mama, sie ablösen zu dürfen, damit sie den Zug sehe.
Großmutter entschlief dann einige Tage später ohne Kampf. Sie hatte mir früher oft von ihrem Elternhaus erzählt, hatte viele Schwestern gehabt; während ihr Vater, Kürschnermeister, mit den Gesellen am Tisch bei der Oellampe gearbeitet, hat sie als Kind sich die Abfälle vom Pelzwerk auf der Erde gesucht und für ihre Puppe unter dem Tisch vernäht.
Ihre eine Schwester sei besonders hübsch gewesen, sodass ein ihnen gegenüber wohnender Arzt sich in sie verliebt und sie zur Frau begehrt hätte. Er sei aber vom Vater abgewiesen, seine Tochter solle einen Handwerker heiraten. Da hat sie dann einen Schuster heiraten müssen, und sei früh gestorben. Dieser Schwager Schuster sei Großmutter immer sehr lächerlich, wenn er zuweilen kam und ihr ein paar Schuh verehrte.
Nach Großmutters Beerdigung im Erbbegräbnis in Hannover hatte Mama dann viel Aufregung durch die Versteigerung ihres ganzen Nachlasses, die nötig war, wegen der Ansprüche eines ihrer Söhne. Mamas Bruder Carl, der nach vielen Schulden und Kummer, die er Eltern und Geschwistern gemacht, in Russland lebte. (Frömmigkeit heuchelnde, lügnerische Briefe an seine Eltern las Vater uns im Winter abends vor, als nach dem Verkauf unseres Hauses vor dem Auszug 1863 mit so vielem Geschriebenen aufgeräumt werden musste.) Nur Großmutters Vögelchen, das frei im Zimmer umher flog, durfte Mama als Andenken behalten.
Im Frühjahr danach wurde dann unsere blauäugige letzte Schwester Else geboren. Indessen hatten wir Großen von Tantchens Zimmer aus, das wir dann unbeleuchtet ließen, abends einen interessanten Einblick in die Wohnung gegenüber bekommen, die von neuem Mieter, Dr. H. mit Familie bezogen war. An dem einen Ende der langen Wohnung war das Kinderzimmer, zugleich Esszimmer. Dort suchte um 9 Uhr das Kindermädchen nach Ablegen der Kleider auf dem weißen Hintergrunde des Hemdes gewandt die schwarzen Springer zu fangen, die dann rasch auf dem Esstisch getötet wurden. Unser zählen war amüsant. Noch ergötzlicher war es, wenn eine Stunde später H.'s zu Bett gingen, aus dem warmen Zimmer am anderen Ende der Wohnung kommend; der lange Dr. mit dem Licht und hängenden Hosenträgern voran, Madame, die gelösten Unterröcke haltend hinterher.
Mit Pünktlichkeit bot sich kostenlos dieses Schauspiel jeden Abend. Wenn ich dagegen morgens meine Freundin oben in ihrem Zimmer besuchte, dann sahen wir drüben ein Idyll. Dort wohnte eine Familie H., der Mann war Posamentier, geschickt und sehr accurat und seine Frau hatte reiches schwarzes Haar. Dieses bearbeitete dann ihr Mann mit geübten Händen zu kunstvollen Pflechten und darnach nahm er sich regelmäßig den Dank von ihr mit einem Kuss! Das waren unsere harmlosen Scherzfreuden, neben fleißiger Tagesarbeit; denn alles wurde für uns viele im Hause gewaschen, geplättet, genäht und geschneidert, mit nur einem Dienstmädchen und wenig Hilfe.
Auch sonst hatten wir viel Scherz, besonders durch unsere Thilde, die mit unnachahmlicher Komik Sprache und Gebärde anderer nachahmen konnte. Überhaupt eine ganze Gesellschaft zu erheitern verstand, so auch unser späteres Kränzchen.
Und so vorzüglich konnte Vater erzählen, den "Kindern" selbst erfundene Märchen, uns "Großen" das Neueste von Politik und der Stadt; er war ein guter Deutscher, uns Vaterlandsliebe einprägend, großer Verehrer Bismarcks, auch voll Lokalpatriotismus. Wenn er abends nach 8 Uhr aus dem "Großen Club" kam, oder am Abend vorher im Kunst-Club heitere Aufführung gewesen war, uns so gut auf Plattdeutsch aus Quickborn von Klaus Groth, den ich später in Kiel kennen lernte, vorlas oder aus Reuter, entbehrten wir nichts. Er aber mochte auch nicht, wenn eine von uns am runden Tisch fehlte. So hatten wir 3 Großen eines Abends große Angst vor Papa, als wir verspätet zu Hause kamen von unseren sehr entfernt wohnenden Freunden, Familie Bastian. In der letzten stillen Straße kamen uns drei Herren entgegen. Ich Ängstliche zögerte törichter Weise, aber die jüngere tapfere Helene ging voran! Da lüftete der jüngste Herr fröhlich den Hut mit den Worten: "Fürchten Sie nichts, wir sind gute Menschen!" Ich wurde von Helene ausgelacht, mußte dafür, nachdem uns die gute Mama den Hausschlüssel herunter geworfen, vor den strengen Vater, vorangeschickt!
Was Phantasie anbelangte, war unsere Helene jedenfalls sehr begabt; großartig wußte sie unsere und andere Kinder, auch einen lebhaften Freund unseres Bruders zu fesseln, besonders Weihnachten mit Puppenstube und großem Puppenhaus und Küche und vielen von ihr reizend angezogenen Puppen.
Interessant wußte Papa auch zu erzählen von seinen größeren Reisen: von Dresden, Berlin, und Paris, wo er zweimal war zu großen Ausstel1ungen aus geschäft1ichem und Kunstinteresse, billig mit Extrazug und unermüdlich mit seinen guten Nerven und offenen Augen die Zeit mit allen Transportmitteln ausnutzend und dabei die Bedienung anhaltend, auch seine Stiefel so blank zu putzen, wie er es zu Hause gewohnt war.
Uns wußte er aufmerksam zu machen auf alle wertvollen alten Häuser, Rathäuser, Kirchen und Brunnen, ebenso Fremden gelegentlich dabei gefällig zu sein; auch ins herzogliche Museum, in dem er jedes Bild kannte, führte er uns. Bei eigenem Besuch wurde der Andreasturm, der höchste der Stadt mit gutem Rundblick, besucht. Den hatte Vater auch in jungen Jahren Demoiselle Beckmann, meiner nachherigen Mutter, gezeigt bis zur höchsten Spitze; die anderen Gäste mit Tantchen wollen von unten bemerkt haben, wie die Füße der Beiden dabei statt neben gegen einander gestanden hätten.
Eine Gelegenheit zu längerem Alleinsein hatte sich geboten durch eine Postfahrt. Während Mama Sophie bei einem Prediger auf dem Lande war, erkrankte ihre Mutter ernstlich, so daß Mama S. nach Hannover kommen sollte. Da wurde Vater gebeten, sie von dort abzuholen mit der Post; sie übernachtete dann in Braunschweig bei den befreundeten alten Bammels.
Papa wird gewiß bemüht gewesen sein, seine Jugendliebe zu trösten.
Dass Papa später, als unsere beiden Mütter gestorben waren, gegen Nichtverheiratete äußerte: er wüsste nicht, wen er lieber gehabt hätte, spricht am besten für unsere ebenso kluge wie warmherzige Mama Elise!
Sie nahm mich 1859 nach meiner Konfirmation mit zu den Verwandten nach Hannover, wo mein Vetter Eduard einige Wochen vorher auch konfirmiert war. Familie Beckmann hatte inzwischen das neue, nach Tante Maries eigenem Plan von ihren Vermögen erbaute Haus auf der Meterstraße mit großem Garten bezogen, in damals noch fast ländlicher Gegend. So stand dem Hause gegenüber noch eine Windmühle und die uns unbekannten Töne von des Müllers Esel weckten uns morgens!
Später ist von dem Grundstück die eine Seite des Sextrostraße fast ganz bebaut. Sehr gefiel es uns dort. Besonders angenehm war in dem Hause die eigene Wasserleitung, wozu der eigene Gärtner aus einem Bassin das Wasser pumpen musste.
Und schön war es im Garten und in der Eilenriede.
1863, ehe ich dann im Frühjahr nach Haensen abreiste, war ich, da unser Haus verkauft war, noch einmal auf dem obersten der drei Böden unseres alten Giebelhauses mit der Aussicht auf den Löwenwall voll Wehmut und Abschiedsgedanken. Michaeli zog Familie Bammel dann um in eine vornehme Wohnung mit vielen, zum Teil großen Zimmern an belebtester Gegend und kleineren Schlafzimmern, nach der Oker zu gelegen. Nachdem ich in Naensen dann einen herrlichen Sommer verlebt hatte, auch interessant durch den Naenser Tunnelbau und Greener Viadukt der Braunschweigischen Südbahn, der auch Sonntags kleine Lustfahrten in den Wald des Sölters mit dem Lokomotivchen brachte, das alltags die dort aus dem Felsen und Steinbruch gewonnenen Steine in kleinen "Hunden" herausbeförderte, als dann im Herbst nach reichem Sommerbeerenobst viel für den Winter eingeerntet und getrocknet werden musste, oft lieber Besuch, auch logierend in die Pfarre gekommen war, reiste ich zu Weihnachten nach Braunschweig und war sehr überrascht, durch die neue Wohnung. Alles war so viel bequemer, so ein geräumiger Vorplatz, auch zum Plätten und Spielen für die Kinder. In der geräumigen hellen Küche weiße Fliesen und vorzüglicher Herd mit Bratofen; Speisekammer und Holzstall daneben und Wasserleitung! Sie zu bauen war wohl dringend nötig geworden nach den Erfahrungen der bösen Cholera. Denn im Gegensatz zu dem durch den Hof der Residenzstadt so viel größerem Hannover wurde Braunschweig infolgedessen eine der ersten Städte mit Löscheinrichtungen. Es wurde eine ständig uniformierte Feuerwehr unter einem Branddirektor eingerichtet, die besten Spritzen und Schläuche beschafft und ein besonderes Wachtlokal im Zentrum der Stadt, in dem immer Tag und Nacht eine mit Pferden bespannte Spritze nebst der Mannschaft in Bereitschaft war; diese ähnlich organisierte und uniformierte Feuerwehr gab es dann später auch auf den Dörfern und wertvoll war dabei ein strenges Verbot des Alkoholtrinkens beim Löschen.
Außerdem hatten wir nun auch Gasleitung! So war die Weihnachtsbescherung im Vergleich zu der bisherigen für uns große Familie zu der regelmäßig auch noch Apotheker Herzog, Vaters Freund, mit süßen Gaben kam, mit besonders eindrucksvoll und glänzend; unser Winchen mit den blonden Locken sagte so feierlich ein hübsches Weihnachtsgedicht auf, beschienen von den Weihnachtskerzen des großen Tannenbaums und auch Neschen mit aschblonden Zöpfchen, die sich später zu ungewöhnlich reicher und langer Haarfülle entwickelten, konnte schon ein Verschen. Schon lange hatten sich doch unsere Eltern eine größere Wohnung gewünscht. Dass nun darin der besonders schwierige Akt des Aufhängens der vielen großen Bilder, die Vater immer Wasserwaage nach sorgfältigem Erwägen kunstverständig mit viel Hilfe und Ratschlag der Familie machte, besorgt war, war mir nicht unlieb. Schnell verging die Zeit, bis ich wieder mit Fußsack und Reisedecke gen Naensen fuhr, wo es im Winter auch sehr gemütlich war, besonders, wenn in der Dämmerung im Ofen die Holzklötze knackten und glühten, die Bratäpfel in der Röhre brieten und dufteten, Tante und Mathilde spannen, ich strickte und der liebe Onkel dann mit der langen Pfeife nach langem Studieren zu uns kam zum anregenden und humorvollen Plaudern, auch Rätselraten, während draußen der Schnee wirbelte, unser Dorf buchstäblich wochenlang vom Verkehr absperrte, dagegen herrliche Schlittenfahrt zwischen den Bergen nach Greene im Mondschein zu einem Tanzkränzchen ermöglichte.
Eigenartig war Onkels Zimmer, außen und zum teil innen mit Wein bewachsen, darin Pfiff ein Dompfaff seine muntere Weise besonders wenn Onkel mit uns vom Besuch in den benachbarten Pfarreien abends nach Hause kam. Onkel brannte nur eine Talgkerze mit Putzschere und gewöhnte sich leider nicht an die für seine schwachen Augen soviel bessere Bammel'sche Lampe. Amtsbrüder, auch mit Familie, kamen oft; dabei gab es oft interessante theologische Dispute, die ich so gern im Zimmer daneben bei angelehnter Tür hörte; sie endeten aber immer mit humorvollem Einlenken Onkels, sodass die Gastfreunde oft und gern kamen.
In Mathildes reizendem Eckzimmer, in dem sie viel Myrthen und Rosen zum Blühen vor dem Fenster brachte, war besonders eine Nische so behaglich, wenn der Teekessel summte und wir 4 Sonntag abends Whist spielten, worin Onkel Meister war.
Er war "eine Seele von Mensch", hatte soviel Gutes in seiner Gemeinde bewirkt, freiwillig erweiterten Schulunterricht übernommen, in seinem Hause Handfertigkeitsunterricht eingerichtet, im Zeichnen unterrichtet und zu seinen eigenen 6 Kindern noch 2 verwaiste Knaben aufgenommen und erzogen. Das alles erfuhr ich nur gesprächsweise, lernte aber seine Kinder und Verwandten -Tante war auch eine Zuckschwerdt -- kennen und schätzen, besonders da ich nach dem ersten Jahr 1864 bis Sommer Besuch 1865 wiederholte. Mich nannte er, da ich im Hause wie mein Vater bei der Arbeit viel sang, "Johann, der muntere Seifensieder". Ebenso hatte ich vorher den Pastor Lang in der Waisenschule verehrt, der ein ebenso guter Lehrer auch für Küchenchemie wie einsichtsvoller Erzieher war, mir die nervöse Weinerlichkeit, die mir zu Hause den "Pauhannchen" eingetragen, abgewöhnte, freiwillig unendgeltlich uns Turnunterricht gab im Esssaal, früh von 7 bis 8 Uhr, im Sommer auf dem Löwenwall mit Reifenspiel; Mathilde war oft an seinerstatt Vorturnerin. Ins Album schrieb er mir die Lebensregel: Nicht viel erwarten, und nicht viel verlangen, an keinem Wunsche leidenschaftlich hangen usw., die mir oft in meinem langen Leben nützlich war.
Da Tätigkeit unserem lieben Vater nach Aufgabe seines Geschäftes Bedürfnis war, behielt er seine Ehrenämter und verschaffte sich neben dem Amt der Verwaltung der Armenanstalt auch dasjenige der ganzen Buchführung, führte dieselbe in tadelloser Schönschrift, die er wirklich hatte neben dem Abfertigen der Armenboten der verschiedenen Bezirke, in denen freiwillige Armenpfleger erfolgreich wirkten. Die damalige Einrichtung der Armenverwaltung in Braunschweig muss wohl vorbildlich gewesen sein, da man von Bremen aus, das vor Neuorganisation stand, ihn bat um Auskunft durch einen Artikel. Diesen nach Besprechung mit dem Oberbürgermeister zu verfassen, und auch einen kleinen klingenden Dank dafür zu bekommen, machte unserem Vater Freude wie auch die Anerkennung, die er in Braunschweig selbst fand; er bekam sehr viele Besuche aus allen Schichten der Gesellschaft, von den Ärmsten, die morgens früh schon Vorzimmer und Treppe füllten bis zu den Höchststehenden, die nicht an Unwürdige geben wollten; besonders gern half er den verschämten Armen durch seinen Einfluss beim Vergeben von städtischen Legaten, war aber sehr böse, wenn man ihm dafür durch gekaufte Sachen danken wollte z.B. durch Blumen; selbst gezogene nahm er gerne an. Dabei geschah es einst, dass eine feine Torte ihm anonym zugeschickt wurde, natürlich umgehend zum Konditor zurückging. Sie kam zum zweiten Mal wieder, da sie im Auftrage eine Dame bezahlt sei; wir Kinder waren in Spannung und Bedauern, denn Leckereien gab es nur an Geburts- und Festtagen. Endlich nannte der Konditor den Namen der Dame und wir durften die Torte verzehren, da sie von einer wohlhabenden Bekannten stammte, der Vater in Geldangelegenheiten guten Rat erteilt hatte.
Ein aufregendes Erlebnis, das mit Vaters Amt zusammenhing, möchte ich hierbei erwähnen, während gegen Abend alle aus waren, mit Ausnahme von mir und dem Dienstmädchen, die Eingangstür zu unserer Wohnung lag, dicht vor der obersten Treppenstufe, öffneten wir oben nach Klingeln im Hausflur einem Arbeiter mit finsterem Blick und einem Bündel im Arm. Es enthielt sein einvierteljähriges Kind, das er nach vollbrachter Arbeit in seiner Wohnung gefunden hatte. Seine Frau, von der er geschieden war und der es gerichtlich zugesprochen war, hatte es ihm heimlich gebracht; er verlangte kurz, Vater müsse für das Kind sorgen. Zum Glück kam zunächst Mama bald; wir flößten dem Kleinen Milch und Weißbrot ein und vertrösteten den Mann auf Papas Rückkehr, die nach 8 Uhr erfolgte. Vater suchte ihn zu beruhigen, aber auch zu verpflichten, zur Unterbringung seines Kindes bei Bekannten für die Nacht. Der Mann wurde gropp und Vater verlangte, dass er unsere Wohnung verlasse, ihm die Tür öffnend. In demselben Augenblick warf ihm der Mann das Kind vor die Füße, um Haaresbreite wäre es die steile Treppe hinuntergestürzt. Da begab sich Vater mit unserem Mädchen und dem Kind zur Polizei, wo er um 9 Uhr die Adresse einer guten Pflegerin für die Nacht bekam, diese selbst aufsuchte, um sich persönlich von der Fürsorge für das kleine Wesen zu überzeugen.
In der neuen Wohnung nahm Vater noch mehr unsere Mama für sich in Anspruch, und ich, während Mathilde viel verreiste, übernahm die Fürsorge für die Schulkinder, da Vater meinen Wunsch, mich als Erzieherin auszubilden, abgeschlagen hatte; Examen gab es damals noch nicht, ebenso wenig Anstellung an öffentlichen Schulen und das Gouvernantenlos in fremden Häusern schilderte er mir nicht verlockend, auch seien solche Pflichten für mich zu Haus nahe liegender; die Kinder, die Tag und Nacht bei mir waren, und mir sehr ans Herz gewachsen waren, gehorchten mir gern aufs Wort bei den Schularbeiten, Spielen und Ausgängen, ließen sich gern Geschichten erzählen, auch selbst erfundene, obgleich mir leider Helenes großartige Fantasie dabei fehlte.
Inzwischen bekamen wir oft Besuch von den Pensionärinnen der uns befreundeten Frau Inspektor Sattler, so auch den von Kathinka und Julchen Grave aus Holle, wo ihr Vater Apotheker war, besonders mit Kathinka, die mehrere Jahre blieb, sich zur Erzieherin auszubilden, ehe sie in die französische Schweiz ging, wurde ich intimer. Sie schwärmte von ihrer Heimat Holle, ich von Naensen; so wurde verabredet, dass ich sie besuchen solle auf Rückkehr von Naensen.
Vorher hatte ich heimlich aus der "Vergnügungskasse" unserer lieben Mama besseren Gesangsunterricht genommen, heimlich übend, wenn Vater zu Sitzungen fort war, ihn dann mit Vorsingen eines Liedes überrascht und so erfreut, dass er hinfort die Kosten der Stunden auch für Mathilde übernahm.
Darauf folgte dann später nach Aufnahmeprüfung durch den bekannten Liederkomponisten Franz Abt der Eintritt in die Singakademie, woran wir beiden ältesten viel Freude hatten, auch besonders durch Mitwirken bei einem großen Musikfest in Braunschweig in der Aegidienkirche; die 9. Symphonie von Bethhoven, das Sanktus von Bach und eine Litanei blieben mir besonders lebhaft in Erinnerung.
Mit B. Bastian und M. Holland, die beide in Musik als Lehrerin tätig, uns natürlich sehr überlegen waren, bildeten Mathilde und ich dann ein einfach fröhliches Kränzchen, in Dankbarkeit an unsere Eltern. Nach dem Musikfest fuhr ich dann nach Naensen und auf der Rückkehr planmäßig für 2 Tage nach Holle. Am Tage vor der Abreise fragte man mich nach den Geschwistern usw. in Holle; ich wusste nur, dass die Mutter tot war, zwei Schwestern verheiratet, drei unverheiratet, auch, wie glaubte, ein Bruder da sei, wohl als Gehilfe seines Vaters, des Apothekers. Die Anmeldung in Holle war knapp vorher erfolgt, und da sonntags damals auf dem Lande keine Postbestellung war, konnte sie nach meiner Annahme nicht rechtzeitig in Holle eingetroffen sein. Als ich am Montag, den 14. August 1865 früh zwischen 4 und 5 Uhr mit Mathilde Zuckschwerdt auf offenem Einspänner von Naensen über den Berg nach Station Kreiensen fuhr, war der Himmel sternenhell über uns. Ich versprach baldige Nachricht. Von Kreiensen fuhr ich per Bahn bis Ringelheim, von wo ich mit der Post bis Grasdorf fahren musste und von da noch 1 ½ Stunden zu gehen hatte. Da die Post nur 30 Pfund frei mitnahm, ließ ich sparsamer Weise - bis zum übernächsten Tage - eine Kiste mit schmutziger Wäsche in Ringelheim, erkundigte mich bei 2 mitfahrenden Herren nach dem Wege bis Holle; sie zeigten mir den Wohldenberg, kannten die Apotheke und bei schönstem Wetter stieg in Grasdorf fröhlich aus.
Ein junger Herr, den Strohhut in der Hand, stellte sich zu meiner Überraschung als Bruder meiner Freundin vor, mich an ihrer statt abzuholen; sie habe sich schon lange auf mein Kommen gefreut; daher habe er schon jemand beauftragt, mein Gepäck nach Holle zu bringen. Einspruch half zunächst nichts, ich schrieb nach N. fidelen Sinns kurze Nachricht meines Eintreffens in Holle.
Mein Begleiter suchte mich Städterin zu prüfen, über meine Kennntnisse der Feldfrüchte und Getreidearten; promt konnte ich meine erworbenen Kenntnisse anbringen; mein Begleiter erwähnte, dass er zum Erkennen ein Bild von mir gesehen hätte; da erzählte ich ihm lachend, wie es in Einbeck, wohin ich über 2 Stunden über die Hube gewandert sei, mit Scherzen, ob der Photograph, ein Engländer, wohl ein kariertes Beinkleid anhabe, ähnlich wie mein Kleid, gemacht sei. (Es war grosskariert gewesen, den Umfang über Krinoline damals entsprechend weit, ich war damit in einen Sessel gedrückt; so hatte, wie ich später erfuhr, Burchard Grave "die kleine verwachsene Person" nur ungern abholen wollen, da er sich dazu von seiner Morgenpfeife und dem geliebten Garten trennen musste).
Ich merkte von dieser Stimmung nicht das Geringste, er fand, dass ich zu schnell bergan ginge; jedenfalls kamen wir bald in Holle an und ich fand es begreiflich, dass meine Freundin ihre Heimat und das Vaterhaus liebte, das stattlich und im Schmuck der mit roten Beeren vor dem Hause prangender Bäume und so vieler schöner Blumen und Früchte im grossen, peinlich sauberen Garten sich zeigte.
Mein Begleiter brachte mich in eine grosse Weinlaube und gab mir Journale, die Schwestern waren noch beschäftigt und brachten mir dann das Frühstück. Bei bestem Wetter machten wir herrliche Spaziergänge und da noch mehr Besuch kam, aus Russland und vom Harz, vergingen 14 Tage sehr rasch und angenehm! Kathinka hatte inzwischen gleich, auch in ihres Vaters Namen an Mama geschrieben und um längeren Urlaub für mich gebeten. Als ich dann nach Braunschweig zurückkehrte, war Vater, glaube ich, bestürzt, dass sich die Sache weiter zu meiner Verlobung entwickelte; er hatte seine Zukunftspläne für seine 6 Töchter so gemacht, dass wir, wie bisher, unverheiratet zusammenbleiben würden, und nun machte "das hässliche junge Entlein"unter der Zahl der Schwestern, die alle verschieden, von Gesicht und Gestalt hübsch waren, ihm den ersten Strich durch seine Rechnung!
Zunächst zwar forderten die Verhältnisse in der Holler Apotheke und Familie, dass mein Burchard und ich länger verlobt bleiben mussten, was besonders für meinen Verlobten immer schwerer zu tragen war, da er Tag und Nacht ohne Vetretung und Hilfe an die Apotheke und das Haus gebunden war, im letzten, dem Kriegsjahr 1870, da sein Vater beinleidend, sein langjähriger alter Gehilfe fort und elend war, nur einmal und nur einen Tag nach Braunschweig kommen konnte und das zur Beerdigung unserer lieben Mama Elise, die er auch so sehr verehrte, wie sie ihn so lieb hatte!
Mit mir meinen an Scharlach plötzlich schwer erkrankten Bruder pflegend, mochte die Aufregung ihrem Herzen zuviel geworden sein; sie hatte, selbstlos wie sie war, dem Arzt nichts gesagt, mir nur wenig geklagt, ich eben noch ihr Brausepulver gebracht, holte ihr Warmstein und fand sie dann tot. Ich selbst wurde krank, konnte aber meinen Bruder weiter allein pflegen, um die Geschwister nicht anzustecken.
Mitten im Kriege war dann unsere stille Hochzeit nach Trauung im Hause; nur durch glücklichen Zufall hatte Burhard noch einen Vertreter für 6 Tage bekommen, die wir zu einer kleinen Reise benutzten.
Die gute Holler Luft machte mich bald wieder gesund; nachdem wir im offenen Wagen von Hildesheim gekommen, unseren Einzug in die Apotheke hielten und zwar mit der Siegesnachricht, dass Strassburg wieder in deutschen Händen war!
Von meinen jüngsten Geschwistern möchte ich noch erzählen.
Während Alwine sich zum Finanzgenie ausbildete, Nese mit Tantchen gern sinnig die Blumen pflegte, unsere einzig schlanke Schwester war und blieb, hatte Adolf die Masern gehabt leider durch Unvorsichtigkeit des Zimmermädchens trotz Mamas grösster Sorgsamkeit bösen Rückfall bekommen, wozu rasches Wachsen kam. Unser gesunder Vater mit so kräftigen Nerven hatte, glaube ich, wenig Verständnis für Adolfs auch vielleicht von der Mutter ererbten schwachen Nerven, zu diesen Folgen der Erkrankung, und hätte ihr vielleicht mehr nachgeben müssen, seinen Einzigen in den ersten Schuljahren zurückzuhalten und zu schonen. Später wurde der fleissige Junge dann selbst zum Bücherwurm - hervorragend besonders im deutschen Aufsatz - leider mehrere Jahre mit unguter Gesundheit. Dagegen war unser Elschen unverfroren und sehr gefällig; drollig neugierig war ihr das erste Brautpaar sehr interessant. Sie holte sich Fussbank, setzte sich auf die Schwelle zwischen unser Wohnzimmer und Vaters Zimmer und rief alsdann als Dreijährige hinein: "Ach, Mama! Die lieben sich!" Den ersten Schwager mochte sie gern, wenn sie auch nicht wie Schwester Nese ihn in Briefen und Versen anschwärmte. Gesangverse ihr beizubringen fiel ihr besonders schwer; dagegen war sie sehr begabt, scherzhafte Aufführungen, plattdeutsche Gedichte überraschend leicht zu lernen und gut zu behalten. In die Zeit meiner Verlobung fiel auch der grosse Brand unseres herzoglichen Schlosses. Der erste Hofball sollte nach langen Jahren gehalten werden, wozu Herzog Wilhelm, der meist fern auf seinen Schlössern, auch gern zur Jagdzeit in Blankenburg a.H. wohnte, sich wohl schwer entschlossen hatte. Die Honeurs machte die Witwe des früheren Österreichischen Gesandten. Als der Ball im grossen Tanzsaal des Mittelbaues kaum begonnen hatte, brach in den überheizten Zimmern des Herzogs Feuer aus, das sich, da der Dachstuhl ohne Unterbrechung war, mit grösster Eile verbreitete, sodass die Damen zum Teil kaum noch ihre Mäntel aus der Gardeorbe bekommen konnten, auch nicht so schnell Wagen und in ihren Festgewändern mit seidenen Schuhen durch den Schnee durch die Hinterräume schnell heimwärts eilen mussten.
Da ich bei meiner Freundin gerade den Abend war, konnte ich den Verlauf des grausen schönen Feuers von Anfang an verfolgen, den trotz der vorzüglichen Löscheinrichtungen erst schwer Einhalt getan werden konnte, sodass ausser dem Herzogsflügel auch noch der ganze Mittelbau des imposanten Gebäudes ausbrannte und die Flammen bald aus allen Fenstern schlugen. Nur wenige Zimmer des Herzoginnenflügels blieben unversehrt und konnten später vom Herzog wieder bewohnt werden.
In achtungsvollem Schweigen verharrte die Menge, besonders als das Feuer den Tanzsaal ergriff, die bunten Flammen des glühenden Metalls die stolzen Pferde der herrlichen Quadriga umspielte, die wir so oft in Onkel Georg Howaldts Werkstätte sich gestaltend hatten bewundern können, und als ihre Lenkerin mit den Zügeln in der Hand sich langsam nach hinten neigte, herrschte allgemeine Stille, bis sie versinkend mit lautem Krach dann aus aller Munde ein "Ach" des Bedauerns in den Zuschauern auslöste. Wie mag ihrem Meister wohl dabei zu Mute gewesen sein! Zwar hatte er sich sie in ihren Verhältnissen zum Schlossbau, immer grösser gewünscht; jedenfalls sie in grösserem Verhältnis später wieder aufgeführt.
Soll ich noch etwas über Familie Grave sagen? So kommen zunächst traurige Zeiten im Frühjahr 1871 für meinen lieben Mann und mich. Zunächst erkrankte sein Vater, der uns bis dahin täglich besucht hatte, auch mit seinen Töchtern, schwer ohne Hoffnung auf Besserung; dazu bekam mein lieber Mann eine schwere Unterleibsentzündung und 8 Tage später, am Begräbnis meines lieben Schwiegervaters, Rückfall! Da war für mich schwerste Sorge! Ihr folgte am 6. Juli die Geburt unseres gesunden Adolfs. Seine Taufe führte Vater und Tantchen als Gevatter in unser Haus und Garten als liebe Gäste.
Zweieinhalb Jahre später stellte sich unser Sohn Carl ein. Mathilde, die Gevatterin stand, und Erbtante werden und ihn studieren lassen sollte, verheiratete sich statt dessen mit Georg Howaldt. Sie wurde in Braunschweig als erstes Paar standesamtlich getraut. Vorher, im Jahre 1875, hielt sie in Holle Haus, während Burchard und ich mit unseren hübschen Töchtern Alwine und Agnes eine einzig schöne sechstägige Harzwanderung machten. An Tildes Hochzeit konnte ich leider nicht, aber doch mein lieber Mann teilnehmen. Bald darauf verheiratete sich Winchen mit Georgs Bruder Bernhard. Da blieben dem lieben Bammel'schen Oberhaupt nur noch drei, von denen Helene die Leitung des Haushaltes übernahm. Schwester Mathilde hatte uns mit ihren beiden Jungens Adolf und Conrad in Holle, wo sie immer so gerne war, im Sommer 1880 besucht, war beim Abschied so traurig, wehte mit ihrem Schleier noch lange aus dem Fenster des Zuges. Wir sahen uns nicht wieder! Sie hatte sich mit mir noch so sehr gefreut über unser kleines Lenchen. Wir bekamen dann durch Helene, die zu Mathildes Pflege nach Kiel gereist war, Nachricht von der Geburt ihres dritten Sohnes; seine Taufe wurde besprochen, da bekam Mathilde unerwartet in Gegenwart von Helene, Georg und dem Arzt einen Herzschlag und starb in den Armen ihres Mannes.
Helene blieb mit Papas Einwilligung in Kiel und versorgte den Haushalt und die 7 Kinder pflichtgetreu und liebevoll. Nach eineinhalb Jahren wurde sie dann Georg Howaldts dritte Frau, pflegte aufopfernd besonders den jüngsten, bis derselbe leider an schwerem Scharlach starb. Sie selbst bekam noch 4 gesunde Kinder, war zeitweise recht leidend und hatte es gewiss nicht leicht, so glücklich sie auch in ihrer Ehe wie wir Geschwister Bammel alle waren.
Leider bekam Papa nach und nach Gedächtnisstörungen, die sich mit Schwindelanfällen und Sehstörungen verbanden. Als ich mit meinen Mann zum 50jährigen Jubiläum des Herzogs Wilhelm in Braunschweig war, und wir alle vom Stadthause den Festumzug sehen wollten, nahm Vater indes zum ersten Mal mit neuer Amtskette anstatt der früheren Uniform an dem Festzuge teil. Das musste ihn wohl sehr erregt haben. Er wurde schon nach wenigen Schritten so elend, dass man ihn in ein Haus bringen musste, wo man sich sehr um ihn bemühte mit dem Erfolg, dass, da in unserer Wohnung niemand geblieben war, 2 Herren ihn zu uns ins Stadthaus zu unserem grössten Schrecken bringen konnten. Zum Glück waren Burchard und ich mit etwas Reisebedarf versehen, sodass er sich weiter erholte. Nun aber konnte der Arzt nur dazu raten, dass mein Vater seine Ehrenämter aufgeben und sich Ruhe gönnen möge. Das führte er dannn auch nach schwerem Entschluss aus, wurde noch hoch geehrt von den Kollegen im Magistrat wie vom Armenpfleger und Prediger-Verein; Mit Überreichung eines schönen silber-vergoldeten Lorbeerkranzes, mit ehrender Widmung.
Ausser mit dem Welfenorden in Hannover war er auch vom Herzog mit dem Ritterkreuz Heinrich des Löwen ausgezeichnet, nach vielen Bemühungen des Krieges um Gefangene und Leidende.
Am meisten war ihm die mit Lebensgefahr gelungene Rettung eines Knaben aus hohen Fluten der Oker eine liebe Erinnerung und die Rettungsmedaille dafür Freude. Trotz dem schwierigen Schwimmen im vollen Zeug bei kaltem Wetter in seinen vorgerückten Jahren und dem Aufenthalt, der dadurch entstand, dass er den unvernünftigen Eltern noch nötige Ratschläge geben musste, trug Vater nur starke Erkältung davon, ein befreundeter Pastor, der mit ihm spazierengehend Zeuge davon gewesen war, kam zu mir, in Eile trockenes Zeug fordernd. Man steckte ihm (noch im alten Hause) ins Bett und an teilnehmendem Besuch fehlte es ihm nicht.
Nachdem nun auch unsere liebe Nese in Braunschweig als Hausvorstand gewirkt, sich nun aber auch verlobt hatte, mit einem Freund von Schwager Georg, nahm Vater den Vorschlag des Letzteren und Helenens an, nach Kiel zu ihnen in ihr schönes Schweizer Haus zu ziehen, da Gehen und Sehen sich leider sehr verschlechtert hatten und abwechselns aufgeregte Zustände eintraten.
Da ihm der Abschied von Braunschweig sehr nahe ging, er sehr hilfsbedürftig und krank war, fuhr ich für 8 Tage nach Braunschweig, unterhielt ihn mit Vorlesen und Vorsingen seiner Lieblingslieder mit Wehmut im Herzen, während Tante und die Schwestern noch viel Arbeit und Vorbereitungen zum Umzuge hatten. Im frühen Morgendämmern fuhr ich dann mit ihm und Schwager Huber durch die stillen Strassen zum Bahnhof und habe ihn nicht wieder gesehen!
Er wurde in Kiel von Helene und Alwine sorgsam gepflegt, bekam dann aber wieder einen Schlaganfall, der zum Tode führte und während seine Möbel noch unterwegs von Braunschweig nach Kiel waren, November 1882, kam seine Leiche schon wieder nach Braunschweig zur Beerdigung zwischen seinen beiden Frauen und neben seinen Eltern zurück. Von uns Geschwistern konnten nur ich und Bruder Adolf an seiner Beerdigung teilnehmen.
Mit der Hochzeit unseres einzigen Bruders wurden wir später überrascht. Er war leider lange Zeit sehr nervös gewesen, hatte als Refendar Urlaub genommen, auch nach Wien, und dort seine Frau kennen und lieben gelernt. Während er in Berlin sein Examen als Regierungsassessor machte, wohnte seine Frau Adele in Kiel mit Tantchen und Elsa zusammen. Schwester Agnes Hochzeit war einige Monate nach Vaters Tode bei Georg und Helene in kleinem Kreise gefeiert. Auch ich nahm daran teil und besuchte als erster Gast das junge glückliche Paar auf der Durchreise in Hamburg in seinem Heim. Während nachdem nun Adele in Kiel wohnte, die schon in Oppeln und Berlin vergeblich an einer Hüftgelenkentzündung operiert war, und mühsam hatte wieder gehen lernen müssen, wurde ihr Leiden nun in Kiel wieder untersucht, und sie mit bestem Erfolg operiert ohne Adolfs Wissen, der dann ohne aufregende Störung in seinem Examen für den guten Erfolg sehr dankbar und erfreut war.
Auch Else, der viel geneckte Bammel'sche Rest wurde glückliche Braut von Schwager Wallis nach tragi-komischen Verlauf seines ersten Besuches in der Villa Georg durch Missverständnisse. Auch an ihrem Hochzeitstage in Kiel nahm ich teil; Else war wohl am meisten von den Geschwistern in Holle gewesen; ihr Mann war damals Rechtsanwalt in Kiel, also zeitweilig drei meiner Schwestern in Kiel verheiratet; so konnte, da Bruder Adolf in Lüneburg, Hubers in Hamburg waren, Burchard und ich alle Geschwister auf einer Reise sehen. Unser Tantchen war aus dem Schweizer Hause in Kiel ins Haupthaus gezogen, von allen mit Recht sehr geliebt; trotz zarter Gesundheit als kleines Zwillingskind und vieler schwerer Erlebnisse war sie immer zufrieden und voll teilnehmender Liebe für Grosse und Kleine, und in bester Gesundheit, bis zuletzt ein Krebsleiden sich anspann, was sich in ihrem hohen Alter nicht operieren liess. Da haben Alwine und Helene sie treulich gehegt und gepflegt und Schwester Helene ihre "Tantenmama" persönlich bis zuletzt selbst verbunden mit scherzenden Worten, wie Tante es liebte, und Wehe im Herzen.
Frau Wolff, unsere Freundin, die sie gern hatte, schlief bei Tantchen und konnte so Helene unterstützen, wenn andere Pflichten sie abriefen, während Tante dafür Toni lieb hatte und vorzog.
Drei Wochen vor ihrem Tode war ich noch bei Tante und einige Tage vor demselben strickte unser fleissiges Tantchen noch einige Maschen. Es fügte sich, dass auch Burchard, mit dem sie sich in Holle so oft und gerne geneckt hatte, mit mir an ihrer Beerdigung in Kiel teilnehmen konnte mit den übrigen Geschwistern. Tante war 86 Jahre alt geworden, immer war sie geduldig und tapfer, dankbar und fromm gewesen; liebevoll teinehmend an den glücklichen Ehen aller Geschwister Bammel, an dem Wachsen und Gedeihen der Grossneffen und Nichten.
Nun bin ich die Älteste in der Bammelschen Familie, wie vorher Helene, Alwine und Agnes auch Witwe, bin dankbar für soviel im Leben erfahrener Liebe, die mir noch im Alter von meinen nächsten, lieben Verwandten und Freunden erwiesen wird, auch von meinen Schwieger- und Enkelkindern, und ganz besonders dankbar, dass der furchbare Krieg, den mein lieber Mann, der 1913 nach kurzer schwerer Krankheit starb, nicht mehr erlebte, mir doch meine Kinder wiedergab.
Als ich das fünfunssiebzigste Lebensjahr vollendete, hatte ich die grosse Freude, alle meine Kinder und Schwiegerkinder bei mir zu sehen. Dankbar bin Gott in Erinnerung meines langen Lebens.

 

"Das Original (ein Durchschlag des Originals von Heinz Howaldt) befindet sich (im Jahr 2003) im Besitz von Anneliese von Bonin, München" (Brigitte Hartel)

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Letzte Änderung: 6.12.04